Allein in einem unbekannten Land

Unser Kind soll zu einem gesunden, glücklichen, selbstbewussten, gebildeten, kontaktfreudigen Menschen heranwachsen; dieses Ziel möchten wir durch ihre Erziehung herbeiführen. Und damit setzen wir uns selbst unter Druck.

Bei den anderen klappt alles

Sandra kommt erschlagen von der Eltern- Kind-Gruppe nach Hause. Nach drei Stunden Schlaf in der vergangenen Nacht hatte sie sich mit Müh' und Not in den Müttertreff, pardon: Elterntreff geschleppt und dort von den nächtlichen Eskapaden ihres elf Monate alten Sohns erzählt. Die gut gemeinten Ratschläge, die danach auf sie ein prasselten, kreisen wild in Sandras Kopf. Eine Mutter lässt ihr Kind bei sich im Bett schlafen. Eine andere lehnt das kategorisch ab. Die dritte hat das Einschlafprogramm aus dem Ratgeber "Schlafen lernen" durchgeführt; "seitdem sind wir diese Sorge los", verkündet sie siegessicher. Nur der einzige Vater im Raum sagt nichts dazu; ihn scheint das Thema weniger zu berühren. "Wahrscheinlich schläft sein Kind problemlos", vermutet Sandra. "Warum nur schaffe ich das nicht?" Diese Frage stellt sie sich häufig, seit Max geboren wurde, Erst brauchte ihr Sohn lange, bis er an der Brust trinken wollte. Dann dauerte es Wochen, ihn von der Brust zu entwöhnen. Zurzeit kostet das Füttern sie den letzten Nerv. Max schreit, wird unruhig, wehrt sich gegen manches, was Sandra für richtig hält. Sein Widerstand macht sie unsicher, beschleicht sie ein schlechtes Gewissen; sie fürchtet, in der Erziehung zu versagen. Dabei will sie doch das Beste für ihn!

Der Druck auf Eltern steigt

So wie Sandra erleben viele Mütter und Väter die neue Rund-um-die-Uhr-Verantwortung für ihr Kind als Dauerstress. Ihr Kind soll zu einem gesunden, glücklichen, selbstbewussten, gebildeten, kontaktfreudigen Menschen heranwachsen; dieses Ziel möchten sie durch ihre Erziehung herbeiführen. Und damit setzen sich selbst unter Druck. Der Glaube, als Eltern alles richtig machen zu müssen, nährt sich aus mehreren Quellen. (Gute) Eltern können alles und wissen alles: Zum ersten Mal erfuhren die heutigen Mütter und Väter das in ihrer Kindheit, als sie die eigenen Eltern als mächtig und unfehlbar erlebten; aus der Perspektive von Kleinkindern sind Eltern eben allwissend und perfekt. Erziehungsratgeber aller Art verstärken diesen Eindruck; sie vermitteln ihren Lesern: Ihr könnt eure Kinder zu glücklichen Menschen machen; ihr müsst nur unsere pädagogischen Einsichten und Empfehlungen perfekt umsetzen. Auch wenn sich die pädagogischen Handreichungen gegenseitig oft widersprechen und vielen Eltern in dem unüberschaubaren Meer an Informationen Schiffbruch droht - die Nachfrage nach Erziehungsratgebern steigt.

Auf Hilfe angewiesen

Denn mangels eigener Erfahrungen mit Kindern, die frühere Generationen dank größerer Familien noch machen konnten, fühlen junge Mütter und Väter sich heute auf Hilfe von anderen angewiesen. Zugleich wissen wir heute viel mehr über die seelische, geistige und körperliche Entwicklung von Kindern. Und diese Erkenntnisse strömen auf junge Eltern ein. Sie hören, dass die ersten Jahre im Leben eines Kindes die prägendsten sind. Dass gerade in dieser Zeit, an die wir uns kaum bewusst erinnern können, Selbstvertrauen, Beziehungsfähigkeit und viele andere Eigenschaften grundgelegt und die Weichen für das weitere Leben gestellt werden.

Erziehung ist keine Einbahnstraße

Mit jedem Handgriff Neuland zu betreten und gleichzeitig zu ahnen, dass - jeder dieser Handgriffe Folgen fürs Leben haben könnte: Dieser Spagat macht unsicher. Nimmt unser Kind seelischen Schaden, wenn wir es nicht bei jedem Schrei sofort auf den Arm nehmen? Die Angst seinem Kind etwas schuldig zu bleiben, sitzt in den Knochen. Dann liest sich mancher Ratgeber wie ein Beichtspiegel. Wo habe ich bisher bereits versagt? Welche Fehler muss ich mir anlasten? Was muss ich in Zukunft besser machen?

Was junge Eltern oft übersehen, wenn sie an sich selbst zweifeln: Erziehung passiert nicht auf einer Einbahnstraße, die von den Eltern zum Kind führt. Vielmehr gehört dazu ein ganzes Netz von Straßen, deren Verkehrsverhältnisse sich gegenseitig beeinflussen und durch die Geburt des Babys gründlich verändern.

Die "Partnerschafts-Straße"

Bisher mussten die Paare nur den Betrieb auf ihrer "Partnerschafts-Straße" regeln, sprich: eigene und gemeinsame Interessen in ihrer Zweier-Beziehung aushandeln. Aber selbst diese Regeln ändern sich, wenn das Baby als dritte Person ins Spiel kommt. Seine Bedürfnisse zwingen die Eltern, über die Aufgabenteilung in der Partnerschaft und ihre persönlichen Freiräume neu nachzudenken. Wie ihnen das gelingt, hängt auch von ihrem Kind ab; die Eltern eines Frühgeborenen, dessen Entwicklung anfangs mit vielen Fragezeichen und Ängsten verbunden ist, werden ihre persönlichen und partnerschaftlichen Bedürfnisse ganz anders empfinden und regeln als andere Paare.

Die "Eltern-Straße“

Neu eröffnet ist die "Eltern-Straße“: Hier tauschen Mütter und Väter manchmal offen und oft wortlos ihre inneren Bilder und Vorstellungen vom Eltern-Sein aus: Wie verhält sich eine gute Mutter, ein guter Vater? Wann ist ein Kind glücklich?
Dabei erwachen zugleich alte "Straßen" zu neuem Leben. Bilder aus der eigenen Kindheit tauchen wieder auf. Die eigenen Eltern werden als - positive oder negative - Vorbilder fürs Elternsein ausgemottet und bewusst oder unbewusst auf ihre Tauglichkeit hin begutachtet. Manche Erlebnisse der eigenen Kindheit erscheinen als Kraftquelle, aber auch alte Wunden werden wieder spürbar. Eltern, die heute mit Wohlwollen auf ihre Kindheit schauen können, genießen bereits viel innere Freiheit für die Erziehung der eigenen Kinder.

Die gesellschaftlichen Vorbilder

Für weiteren Andrang auf der "EItern-Straße" sorgen die gesellschaftlichen Vorbilder. Ob im Dorftratsch oder in den Medien: Die Gesellschaft hat bestimmte Vorstellungen davon, was eine intakte Familie, eine liebevolle Mutter, ein guter Vater oder ein gut erzogenes Kind ist. Die Wissenschaft vorneweg: Während Psychologen und Pädagogen bis vor 20 Jahren das Glück eines Kindes fast ausschließlich in einer guten Mutter-Kind-Beziehung suchten, zeigen jüngst veröffentlichte Langzeit-Studien (zum Beispiel): Die Fähigkeit von Kindern, Mitgefühl mit anderen zu entwickeln, hängt am stärksten vom Engagement ihrer Väter ab.

Die „Mutter-Kind-" und die "Vater-Kind-Straße"

Was auf der .Mutter-Kind-" und auf der "Vater-Kind-Straße" passiert, bestimmen also nicht allein die Eltern. Die Zuflüsse aus den anderen "Straßen" spielen eine wichtige Rolle - und, nicht zu vergessen, das Baby selbst. Ein temperamentvolles Kind fordert seine Eltern ganz anders heraus als ein ruhiges, das viel schläft. Faszinierende Beobachtungen von Entwicklungspsychologen haben gezeigt: Selbst Neugeborene beeinflussen das Verhalten ihrer Eltern auf früher ungeahnte Weise. Und, für hilfesuchende junge Eltern besonders tröstlich und ermutigend: Die Mütter und Väter der Kleinen schaffen es, in Sekundenbruchteilen richtig auf die Signale ihrer Babys zu reagieren. Vorausgesetzt, sie lassen sich dabei von ihrer eigenen elterlichen Intuition leiten.

Lernen, wann ein Kind was braucht

Erziehungsratgeber stoßen hier an ihre Grenzen - weil sie die individuellen Besonderheiten der Kinder und ihrer Eltern nicht berücksichtigen können. Natürlich weiß inzwischen fast jeder, dass es wichtig ist, Kinder "konsequent" zu erziehen, dass also ein einmal ausgesprochenes "Nein" auch wirklich ein Nein bleiben muss. Bei allem guten Willen stehen vielen Eltern dabei oft ihre eigenen Kindheitserfahrungen massiv im Weg. Zum Beispiel möchten Mütter und Väter, die mit Schlägen oder Liebesentzug erzogen wurden, dieselbe Härte nicht auch bei ihren Kindern anwenden. Doch dann fehlen ihnen nicht nur andere Methoden, sondern auch die innere Erlaubnis, Grenzen zu setzen. Sie müssen das erst lernen; ihr innerer Seismograph dafür, wann ein Kind elterlichen Halt braucht und wann es besser selbst entscheidet, kann sich nur nach und nach entwickeln.

Liebe hat viel Gesichter

Dabei haben Eltern 1000 Möglichkeiten, Fehler zu machen. Aber für Kinder kommt es gar nicht darauf an, dass die Eltern immer und überall die pädagogisch hochwertigste Reaktion zeigen. Viel wichtiger ist, wie ihre Mütter und Väter grundsätzlich zu ihnen stehen. Egal ob sie viel oder wenig Zeit mit ihnen verbringen, bewusst oder aus dem Bauch heraus erziehen - Kinder haben zu ihren Eltern eine ganz ursprüngliche Liebesbeziehung. Diese Beziehung wächst von Tag zu Tag, wenn Kinder die Bereitschaft spüren: "Du kannst dich auf mich verlassen." Oder wenn sie erleben: .Ich setze mich mit dir auseinander, egal wie du dich verhältst."
Das kann auch heißen: "Weil ich dich liebe, mute ich dir heute einen Babysitter zu, damit dir deine Eltern als Paar erhalten bleiben." Oder: "Weil ich dich liebe, sage ich jetzt nein."

Die Anregungen und Tipps der Erziehungsratgeber können Eltern nutzen, wenn sie sich unsicher fühlen - als Angebot. Bereits beim Lesen, dann aber auch beim Ausprobieren "neuer Erziehungsmethoden" werden sie in sich spüren, ob diese Vorschläge auf sie und ihr Kind passen - und wenn nicht, vergessen sie sie besser. Je länger und besser Eltern ihr Kind kennen, desto mehr werden sie ihrer eigenen Intuition vertrauen lernen - ein immer wieder spannender, einzigartiger Weg.

Übrigens, Sandra traf heute auf dem Spielplatz den Vater aus der Eltern- Kind-Gruppe. Er erzählte ihr, dass auch sein Sohn lange brauchte, bis er am Abend sicher einschlief. Abends beschloss Sandra, wieder in die Eltern- Kind-Gruppe zu gehen. Sie will sich weiterhin Anregungen holen - von Eltern, die genauso wie sie auf der Suche sind.

Eva Tillmetz